Travis Okulski, Chefredakteur von Motor1 USA, hatte die Möglichkeit, die erste Hybrid-Corvette in die Mangel zu nehmen und erläutert, ob sie eine ernsthafte Alternative zur extremeren Z06 sein könnte.
General Motors hat viel in die Entwicklung der aktuellen Corvette mit Mittelmotor investiert. Gerüchten zufolge belief sich der Betrag auf mehr als eine Milliarde Dollar. Damit signalisierte GM sein Vertrauen in die Plattform und zeigte, dass es dem Unternehmen ernst damit war, den weltweiten Ruf der Corvette zu verbessern.
Damit sich die Corvette weiterentwickeln konnte, war dieser Schritt sicher notwendig. Bei der Vorgängerin C7 hatte man die Leistung auf ein Niveau erhöht, bei dem die Z06 und die ZR1 eher überhitzten oder ihre Reifen in Gummisplitter verwandelten, als dass sie sich ernsthaft mit richtigen Supercars messen konnten. Hier war die Grand Sport mit der Z06-Karosserie und dem Stingray-Antriebsstrang sicher der Sweet Spot, quasi das Beste aus beiden Welten.
Die Grand Sport ist bei der C8 nicht zurückgekehrt - zumindest noch nicht. Ein Breitbau mit dickeren Schlappen in Verbindung mit dem Basismotor würde in diesem Fall aber auch nicht viel bringen, zumal sich die Stingray aufgrund ihres massiven Grips eh schon wie ein Allradauto fährt.
Stattdessen schlug das Corvette-Team eine komplett andere Richtung ein. Man kombinierte die Z06-Karosserie mit dem 495 PS starken LT2-V8 und einer kleinen 1,9-Kilowattstunden-Batterie, die die Vorderachse antreibt. So entstand die E-Ray, eine allradgetriebene Hybrid-Corvette mit 655 PS und einem Drehmoment von 807 Nm. Es handelt sich um ein Gesamtkonstrukt, das durchaus Rätsel aufgibt.
Schnelle Daten | 2024 Chevrolet Corvette E-Ray |
Motor | 6,2-Liter-Hybrid-V8 |
Batterie | 1,9-Kilowattstunden-Lithium-Ionen-Akku |
Leistung | 655 PS / 807 Nm |
0-60 MPH | 2,5 Sekunden |
Preis / wie getestet | $106,595 / $129,525 |
An den Zahlen gibt es wenig zu meckern. Chevy sagt, dass die E-Ray in 2,5 Sekunden von 0-60 mph (0-96 km/h) beschleunigt, was sie in dieser Hinsicht zur schnellsten Corvette aller Zeiten macht. Außerdem ist sie sparsamer und sollte auf rutschigem Untergrund auch besser zurechtkommen als ihre C8-Baureihengeschwister. Durch den Widebody sieht sie zudem großartig aus UND: Sie hat den LT2, was bedeutet, dass sie den Small Block-Sound beibehält, der seit Generationen die Visitenkarte der Vette ist.
In der Stadt ist die E-Ray eine typische Corvette, kultiviert und komfortabel. Es dürfte wenige bis keine Mittelmotor-Autos geben, mit denen man im Alltag leichter zurecht kommt. Die Rundumsicht ist vergleichsweise gut, in die beiden Kofferräume passt eine Menge hinein, und sie schafft es hervorragend, die bekannte Corvette-Formel auf ein Auto mit einem völlig neuen Antriebslayout zu übertragen. Auf der Autobahn zeigt sich auch die E-Ray als perfekter GT - gut gedämpft und nicht zu aggressiv.
Viel wichtiger ist aber freilich: Sie ist wirklich verflucht schnell. Man kann es eigentlich gar nicht übertreiben, wenn man beschreibt, wie schnell dieses Auto ist. Die E-Ray ist ein Maniac. Gefühlt haust du das rechte Pedal in den Boden und ohne Verzögerung stehen dreistellige Zahlen (Meilen in dem Fall; Anm. d. Red.) auf dem Tacho.
Das Drehmoment der Elektromotoren kickt akut und in Kombination mit dem kräftigen Small Block im Rücken gibt es einen Leistungsschub wie bei keinem anderen Auto in dieser Preisklasse. Der letzte Honda NSX war ähnlich, aber seine Elektromotoren mussten die Lücken in der Leistung des Turbo-Verbrenners ausgleichen. Der E-Ray hat weder Turbos noch Lücken, die ausgeglichen werden müssen. Nur eine Wand aus Kraft.
Eine Neuerung ist ein rein elektrischer Fahrmodus. Chevy weist fast schon euphorisch darauf hin, dass die E-Ray mit einer Geschwindigkeit von bis zu 72 km/h ein paar Kilometer rein elektrisch fahren kann. Ein nettes Gimmick, wenn Sie Ihr Haus verlassen wollen, ohne dass ein mächtiges V8-Grollen die Kinder aufweckt, aber es gibt Einschränkungen.
So existiert beispielsweise keine Möglichkeit, den Modus zu aktivieren, wenn Sie das Auto bereits gestartet haben. Sagen wir also, sie fahren in ein Parkhaus ein und wollen den Motor abstellen, um nicht für Aufsehen zu sorgen, dann geht das nicht. Stattdessen müssen Sie den Modus schon vor dem Start über den Moduswahlschalter aktivieren. Und wenn Sie ein bisschen zu viel Gas geben, springt der Motor ohnehin wieder an, und das war's dann auch: Man kann nicht zurück in den EV-Modus wechseln. Ärgerlich.
Das größte Ärgernis des EV-Modus ist jedoch, dass Funktionen wie die Klimaanlage nicht funktionieren, weil der Verbrenner die Nebenaggregate antreibt. Wenn Sie also im so genannten Stealth-Modus fahren, achten Sie bitte darauf, dass es draußen nicht zu heiß ist, sonst läuft Ihnen in kürzester Zeit die Soße runter.
Auf der Straße ist die E-Ray eine moderne Grand Sport: Eine Stingray mit mehr Grip, aber dieses Mal natürlich auch mit mehr Leistung. Bleibt als entscheidende Frage, welche Corvette man sich den jetzt kaufen sollte? Ich habe viel darüber nachgedacht und bin letztlich zu dem Schluss gekommen, dass es nicht diese wäre.
Sicher, bis 60 mph (96 km/h) ist sie schneller als jede andere Corvette, auf der anderen Seite ist sie nur 0,4 Sekunden schneller als die Basis-Stingray. Ein Auto, das bei 68.300 Dollar beginnt. Die E-Ray startet bei 104.900 Dollar. Aber das Problem ist nicht das untere Ende der Modellreihe. Es ist die Spitze.
Die Z06 mit ihrem herausragenden 5,5-Liter-LT6-Flat Plane-V8 ist ab 110.100 Dollar zu haben. Ein überschaubares Delta. Zudem dürften die wenigsten Menschen in dieser Preisklasse nach praktischen Gründen für den Kauf eines Autos suchen, sie wollen etwas Besonderes. Die Z06 ist etwas ganz Besonderes, ein Ferrari 458 aus Bowling Green. Schon beim Anlassen bekommen Sie Gänsehaut.
Die E-Ray fühlt sich weit weniger besonders an. Die karosseriefarbenen Akzente verdecken einige der Details, die die Z06 zum Strahlen bringen. Das Startgeräusch unterscheidet sich nicht von dem einer Stingray. Das tägliche Fahren in normalem Tempo fühlt sich ebenfalls nicht besonderer an als beim Basisfahrzeug, während die Z06 aufregend ist, egal wie schnell man fährt.
In Wirklichkeit ist die E-Ray eine mehr auf die Straße ausgerichtete Option in der Preisklasse der Z06. Sie verhält sich zur Z06 in etwa wie der 911 Turbo zum 911 GT3. Besteht eine gewisse Anziehungskraft für Leute, die die Corvette lieben, ein Beschleunigungsmonster suchen, aber nicht auf die Rennstrecke wollen? Definitiv.
Einen besonders großen Markt sehe ich jedoch nicht. Wie viele Corvette-Käufer haben den Wunsch nach einem Allradantrieb oder einem Hybrid-Antriebsstrang geäußert? Vor allem nach einem, der keine nennenswerte elektrische Reichweite hat und in diesem Modus keine Nebenaggregate betreiben kann?
Für sich genommen macht die E-Ray für mich nicht viel Sinn. Auf der anderen Seite konnte Chevy gar nicht früh genug betonen, dass man mit dem Bau der E-Ray kaum hinterherkomme, weil die Nachfrage so groß sei.
Das Besondere an der E-Ray ist für mich eher, dass sie schafft, was dem NSX Jahre zuvor nicht gelungen ist: Sie öffnet moderne Hybrid-Technologie zu einem für Sportwagen- und Hypercar-Standards vernünftigen Preis für ein breiteres Publikum. Zudem wird sie wertvolle Erkenntnisse für die kommende Zora, eine Corvette ZR1 mit einer hybridisierten Vorderachse, liefern.
Da die ZR1 ohne Hybridisierung bereits 1.064 PS leistet, können Sie sich auf eine Corvette mit 1.200 PS gefasst machen. Sie dürfte im Stande sein, Hypercars zu vernichten, die ein Vielfaches mehr kosten. Genau das ist es, was die Corvette tun sollte.
2024 Chevrolet Corvette E-Ray | |
Motor | 6.2-Liter Hybrid V-8 |
Batterie | 1.9 Kilowatt-Hour Lithium-Ion |
Leistung | 655 Horsepower / 595 Pound-Feet |
Getriebeart | Eight-Speed Dual-Clutch |
Antrieb | All-Wheel Drive |
Beschleunigung 0-60 mph | 2.5 Seconds |
Höchstgeschwindigkeit | 180 MPH (est.) |
Verbrauch | 16 City / 24 Highway / 19 Combined |
Elektrische Reichweite | 3 Miles |
Leergewicht | 3,774 Pounds |
Anzahl der Sitze | 2 |
Kofferraumvolumen | 12.6 Cubic Feet |
Basispreis | $106,595 |
Preis des Testwagens | $129,525 |